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Familienleben in der globalen Corona-Pandemie

Dr. Hermann Scheuerer-Englisch, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg zum Thema "Familienleben in der globalen Corona-Pandemie" (vom 13.3.2020):

 

Familienleben in der globalen Corona-Pandemie: Umgang mit den Schulschließungen und Familienorganisation. Herausforderungen und Chancen

Die Coronakrise beschert der Welt eine historische Situation: In allen Ländern der Welt müssen

Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbreitung der Infektion zu verlangsamen und dazu das

öffentliche Leben einzudämmen. Neben der Absage nahezu aller kulturellen Veranstaltungen werden nun – auch in Bayern – die Schulen geschlossen. Kinder sind ab sofort zu Hause, und es wird in Bayern von „verlängerten Osterferien" gesprochen. Das trifft es aber nicht: Es handelt sich um eine historische Ausnahmesituation für Kinder und Eltern, die das Familienleben einzigartig beeinflussen wird. Wie schafft es jede einzelne Familie, die Zeiten neu zu strukturieren, die Versorgung des oder der Kinder sicherzustellen, finanziell zu überstehen, z.B. wenn es Arbeitsausfälle gibt oder die Kinderbetreuung nicht finanziert ist uvm..

Im Folgenden werden aus psychologsicher Sicht und aus familienberatender Sicht einige Hinweise und Überlegungen gegeben.

 

Umgang mit Gefühlen von Unsicherheit und Angst

Kinder und Jugendliche orientieren sich in der gefühlten Einschätzung von Bedrohungen stark an den erwachsenen Bindungspersonen. Unsere eigenen Gefühle und unsere Aufregung als Eltern haben deshalb Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl von Kindern. Dies gilt umso mehr, je kleiner die Kinder sind und je weniger sie kognitiv verstehen. Kindergartenkinder werden sich z.B. vielleicht eher nur freuen, wenn Mama und Papa mehr Zeit haben, weniger nachfragen warum.

Wir Erwachsene sind nun angesichts der Coronakrise auch starken, z.T. nicht absehbaren

Veränderungen und damit verbundenen Ängsten, Stress und Unsicherheiten ausgesetzt und wir

stehen vor vielen Fragen: z.B. Wie kann die organisatorische, materielle und seelische Versorgung unserer Kinder gelingen? Wie werden sich die Kinder langfristig über Wochen verhalten? Wie können wir mit den Kindern umgehen und die Zeit gestalten? Können wir die Krise finanziell überstehen? Wie verhält sich mein Arbeitgeber? Werden wir in der Familie und unsere Großeltern krank und wie werde wir das überstehen? uvm..

Kennzeichnend für die Situation ist es, dass es für die meisten Fragen keine schnellen und klaren Antworten gibt. Das gilt auch für die entscheidenden Personen in der Politik, in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen. Es geht nun um LERNEN DURCH TUN und AUSPROBIEREN. Und Unsicherheit auszuhalten und Geduld zu haben. Und es geht darum, wie wir mit unseren eigenen Gefühlen und dem erlebten Stress umgehen. Es wäre gut, wenn die Kinder erleben und spüren, dass die Eltern authentisch bleiben, d.h. durchaus Ängste zugeben, wenn sie Ängste haben. Wesentlich ist dabei aber, dass den Kindern vermittelt wird, dass die Ängste nicht überschwemmend sind, sondern die Erwachsenen damit umgehen können und handlungsfähig bleiben. Und dass man durch Handeln und Ausprobieren aktiv bleibt. Kinder sollten auch ehrliche Erwachsene erleben, die zugeben, dass es für bestimmte Probleme noch keine Lösung gibt, sondern dass man abwarten muss, wo und wie politische und staatliche Entscheidungen weiter gefällt werden und welche Handlungsmöglichkeiten sich von Tag zu Tag ergeben.

Wir sollten uns bezüglich der drohenden Virusinfektion damit beruhigen, dass Angst und Aufregung die Dinge nicht besser machen oder verändern, sondern dass wir für die Kinder ruhige, sachliche und sich selbst gerade zurechtfindende Bezugspersonen sind. Die Infektionen werden ja vermutlich nicht komplett zu vermeiden sein, sondern sie sind zu ertragen, zu überstehen und wieder hinter sich zu lassen. Gelassenheit stärkt dabei das Immunsystem, Angst belastet es. Unter Umständen können bei uns Erwachsenen zusätzliche Ängste und Sorgen wegen anderen Erlebnissen aktuell oder aus unserer Vergangenheit auftauchen, die es uns schwermachen, in der jetzigen Situation ruhig zu bleiben. Sie sollten sich als Eltern vorstellen, dass sich diese Gefühle auf Vergangenes beziehen und gerade eher störend sind. Sie könnten sie z.B. aufschreiben, und das Blatt dann in eine Schublade legen, um es dann herauszuholen, wenn die gute Zeit ist, sich damit zu beschäftigen.

Die Kinder selbst sind nun natürlich auch voller eigener Gefühle, weil die Schule nun schließt, es eine Art von Ferien gibt. Viele sind aufgeregt, freuen sich vielleicht auch, aber sie können auch verunsichert sein, nicht froh oder sogar besorgt, wenn zu Hause Belastungen warten. Kindern tut es gut, wenn ihre Gefühle von den Eltern wahrgenommen werden, wenn sie gezeigt werden dürfen. Eltern müssen keine Lösungen oder Aktionen anbieten, es reicht, wenn Gefühle beschrieben und wertgeschätzt werden, also eher mit einer offenen, interessierten Haltung: „Aha, so empfindest du das. So ist das für dich. Das denkst du also." etc.. Wir Eltern sollten uns mit eigenen Bewertungen zurückhalten, sondern eher die Kinder fragen, welche Ideen sie selbst haben, mit dem Gefühl umzugehen. Auch professionelle Beratungsangebote, z.B. auch der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern sind hier hilfreich.

 

Umgang mit Zeit und Alltagsorganisation: Aufatmen, durchatmen, Struktur finden

Zunächst einmal ist es sehr ungewohnt, dass der Zusammenbruch des öffentlichen Lebens und die Absage von Meetings, Veranstaltungen etc. Zeit und Freiräume schafft. Heute wäre ich z.B. auf einem Fachtag in München gewesen. Vorgestern habe ich meine Teilnahme abgesagt, so dass nun ein terminfreier Tag zur Verfügung steht, an dem ich diese Gedanken schreiben kann. Man kann vielleicht sagen, dass das ganze Land auch aufatmet, weil unerwartet Zeit entsteht, auch wenn dies leider nicht für alle Menschen gilt. Es geht aber schon darum, nun die positiven Möglichkeiten und die entstehenden Pausen bewusst wahrzunehmen, und etwas ruhiger und langsamer zu werden.

Durch den Wegfall der Schule und evtl. KiTa ist weniger kindbezogener Termindruck vorhanden und in der Arbeit werden flexible Umgangsmöglichkeiten mit der Work-Family-Life-Balance verhandelt. Die Schließung der außerfamiliären Lebensorte von Kindern und die Vorgabe, hauptsächlich zu Hause zu bleiben, zwingt die Familie in eine auf die Wohnung bezogene große Nähe und bringt viel gemeinsame Zeit.

Es kann für die Zufriedenheit der Familienmitglieder mit dieser Zeit sehr hilfreich sein, von Beginn der Schließungen an mit den Kindern eine feste Tagesstruktur aufzubauen und mit Ihnen gemeinsam zu planen: Dazu gehört die Klärung der Aufstehzeit mit Frühstück, bei Kindergartenkindern eine klarer definierte analoge Spieleinheit, bei Schulkindern eine oder zwei feste Lerneinheiten – entsprechend auch den Materialien und Vorgaben von der Schule. Dann kann das Kochen und die Mahlzeit geplant werden, eine Zeit für ins Freie gehen und sich bewegen, eine Zeit für Haushaltserledigungen, eine Fernsehzeit, für ältere Kinder natürlich auch Zeit für Computer und Smartphone, und Zeiten für Musik, Kreatives, und Zeiten für neue Projekte und Möglichkeiten, die den Kindern oder Eltern

einfallen. Die Frage lautet also:

 

 Wie schaut unser Tagesplan und wie schaut unser Wochenplan aus?

Lernen: Was und Wie? Eltern sind keine Lehrkräfte, aber Lernbeobachter*innen und –gleiter*innen

Bei Schulkindern ist natürlich mit der Schule zu klären, welche Materialien und Lernformen möglich und organisierbar sind. Es besteht beim Lernen zu Hause eine neue, einmalige Situation, da die Eltern den Kindern beim Lernen nun über die Schulter schauen. Es ist für Eltern und Kinder wichtig, sich bewusst zu machen, dass die jetzige Situation nicht mit der Hausaufgabensituation vergleichbar ist!

Das in unterschiedlichem Ausmaß von der Schule unterstützte Lernen zu Hause – am besten am Vormittag – ist die Aufgabe und Pflicht der Kinder, auch als Teil ihrer Selbstverantwortung. Eltern könnten hier eher die Haltung einnehmen: Du lernst für dich und die Schule, die dafür eingeplante Zeit verbringst du auf jeden Fall z.B. am Schreibtisch/Arbeitsplatz, und ich kann dir ab und zu über die Schulter schauen, wie du das machst. Wenn ein Kind bestimmte Dinge nicht versteht, dann wäre zu klären, welche Fragemöglichkeiten sich ergeben: Kann die Lehrkraft erreicht werden? Auf welchen Wegen? Wenn dies nicht geht, dann sollten die Eltern zunächst eher das Kind beim Überlegen unterstützen und nicht vorschnell erklären. Auch wenn das Kind Erklärungen von den Eltern verlangt, sollten diese hier nur vorsichtig und in kleinen Schritten Hinweise geben, und das Kind selber vorangehen und überlegen lassen. Wenn Eltern und Kind bei Lernthemen unsicher sind, dann ist es besser, das entsprechende Thema ruhen zu lassen, und vielleicht das Kind anzuhalten, einen Fragenkatalog für die Schule und die Lehrkraft anzulegen. Grundsätzlich sollte das schulische Lernen zu Hause keinen Stress zusätzlichen Stress in die Eltern-Kind-Beziehung tragen. Die Eltern sind nicht die Lehrkräfte, sondern Beobachter*innen und Begleiter*innen des lernenden Kindes.

Wenn die Schule keine Lernmaterialien und Vorgaben anbietet, könnten Kinder zumindest in der

Lerneinheit bisheriges Wissen wiederholen, einüben und vertiefen. Die Lernzeiten könnten aber auch genutzt werden, ganz andere Dinge zu lernen, die die Kinder interessieren, für die aber in der Schule keine Zeit ist oder gar nicht vorgesehen ist. Eltern und Kinder könnten sich dazu Wissen aus dem Internet holen (z.B. Youtube-Videos zu Schulwissen, Handwerk, sozialen Zusammenhängen, Musik, Politik und Weltgeschehen… oder Wikipedia oder andere Wissensplattformen erkunden). Kinder könnten Eltern Fragen zum Leben stellen, wofür bisher zu wenig Zeit war. Kinder könnten sich für solche Fragestunden Fragen überlegen, z.B. Papa oder Mama, erklär mir doch mal, was du eigentlich genau in deiner Arbeit machst., oder: Wie habt ihr geheiratet,…..

 

Mitverantwortung der Kinder: Einmalige Chance für (noch) mehr Selbständigkeit

Viele Familien werden in der aktuellen Situation flexible, schnelle, nicht immer bis ins letzte

durchdachte Lösungen für Abwesenheitszeiten, Einkäufe, Alltagsvorgänge entwickeln müssen. Kinder können altersgemäß – auf jeden Fall ab dem Schulalter positiv und aktiv einbezogen werden. Eltern sollten Kinder fragen, was sie selber schon tun können, z.B. beim Kochen helfen oder sogar ein Gericht kochen lernen oder anderweitig im Haushalt Aufgaben übernehmen. Es geht auch darum, wie lange sich Kinder mit welchen Regeln auch allein für eine gewisse Zeit zu Hause aufhalten können. Hier können neue Spielräume gewonnen werden. Dafür müssen die Rahmenbedingungen gut abgesprochen werden: Was darf das Kind tun, wie gehen die Geschwister mit Konflikten um, wie sind die Eltern erreichbar etc. Wesentlich ist jedoch, dass die Kinder die Botschaft bekommen, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Meisterung einer Krise leisten. Kinder schätzen es, wenn sie Verantwortung übernehmen können.

 

Spielzeit, ins Gespräch kommen und analoge Dinge tun, für die nie genug Zeit war und ist

In der Tagesplanung können vielleicht auch Zeiten für gemeinsames Spielen und „neue Dinge Tun" eingeplant werden. Dazu gehören neben dem konventionellen Spielen mit Karten oder Brettspielen auch z.B. sich gegenseitig vorlesen, gemeinsam singen, eine Wanderung machen, sich gegenseitig Dinge beibringen. Kurz: Zeit miteinander verbringen und dabei ins Gespräch kommen. In allen Familien und Haushalten gibt es zudem Dinge, die immer wieder weitergeschoben werden, weil andere Dinge wichtiger sind oder zu wenig Zeit insgesamt zur Verfügung ist. Dazu gehört z.B. Zeit zum Schlafen, ein Regal aufräumen, die vielfältigen Spielsachen des Kindes durchforsten und auf den aktuellen Altersstand bringen und Dinge aussortieren, die Möbel im Zimmer neu aufstellen oder eine Wand streichen und gestalten, Zeit zum Basteln oder Reparieren von Dingen, gemeinsam Handwerken, den Garten frühlingsfit machen uvm.. Die Krise kann hier auch eine große Chance darstellen, in der Familie näher zusammenzuwachsen und in einer aufgabenbezogenen Zusammenarbeit neue Erfahrungen zu machen. Wichtig ist jedoch, dass die Kinder bei der Planung ernsthaft und auf Augenhöhe einbezogen werden.

Übrigens ist auch Langeweile ein wesentlicher Beitrag, dass sich die Seele entspannen und Kinder und Erwachsene neue Energie tanken können. Also: es muss nichts gemacht werden. alles kann gemacht werden.

 

Exkurs Digitale Kommunikation: Lernen, Kommunizieren, Spielen

Nachdem die persönlichen Kontakte ja sehr reduziert werden sollen, wird die digitale

Kommunikation mit Gleichaltrigen, die digitale Wissensvermittlung und das online Spielen in der kommenden Zeit enorm an Bedeutung gewinnen. Eltern sind vermutlich hier besonders

herausgefordert, mit den Kindern neue Zeitabsprachen zu treffen und ihre Einstellung zur digitalen Kommunikation flexibler zu machen. Kindern sollten insgesamt mehr Bildschirmzeiten zugestanden werden, die aber trotzdem zeitlich verortet werden. Wichtig ist auch eine Unterscheidung der Bereiche: Lernen mit online-Möglichkeiten zählen dann eben nicht als Bildschirmzeit, sondern als Lernzeit. Fernsehen ist Freizeit und Entspannung. Chat und Nachrichten oder Video-Telefonate sind auch Kommunikation, die nun analog fehlen, und die Jugendliche aber auch brauchen. Und online-Spiele sind ebenfalls eine Kommunikationsform, die für die Kinder und Jugendlichen wichtig ist.

Eltern können nun evtl. auch mit dem Kind oder Jugendlichen ein Computerspiel spielen, sich von ihnen deren Faszination erklären lassen und Fragen dazu stellen. Als Grundregel könnte man annehmen, dass die Lernzeiten am Computer und bei Schulkindern je nach Alter eine halbe oder eine Stunde nicht als Bildschirmzeiten gelten, und dass dann die übliche, bereits verhandelte Zeit zusätzlich dazu kommt.

 

Umgang mit Konflikten

Natürlich sind die vor der Krise bestehenden Familienbeziehungen und –konflikte zwischen den

Geschwistern, oder auch den Elternteilen, durch die neue Situation nicht aus der Welt. Es wäre aber nun eine gute Möglichkeit, verhärtete oder schwierige Themen aufzuweichen, einfach mal Probleme gemeinsam zu lösen, flexibler zu werden, den Streit beiseite zu stellen, neuen Zusammenhalt zu finden, ins Gespräch zu kommen uvm.. Eltern und Familien dabei zu unterstützen ist seit Jahrzehnten die Aufgabe unserer Beratungsstelle. Wir hoffen, dass die Krise eher zu mehr Zusammenhalt als zu mehr Konflikten führt. Wir werden uns bemühen, in dieser Zeit mehr Telefonberatungsmöglichkeiten anzubieten, auch unsere Jugendsprechstunde jeden Mittwoch von 15:30 bis 17:00 Uhr bleibt bestehen. Rufen Sie an und erkundigen Sie sich. Evtl. werden wir versuchen, bestimmte Themen und Entwicklungen, die besonders viele Eltern betreffen, mit kurzen Informationen über unsere Homepage zu beantworten. Schreiben Sie uns Ihre Fragen.

Dier Coronakrise ist eine historische Situation. Wir müssen uns alle bewusstmachen, dass wir viele positive Handlungsmöglichkeiten in unserer Familie und in unserem sozialen Umfeld haben, die mitbestimmen werden, wie wir alle daraus hervorgehen. Für uns Erwachsene als Eltern ist die Situation eine evtl. sehr anstrengende Verantwortungssituation. Die Journalistin Nicola Schmidt (artgerecht erziehen) hat uns letztes Jahr letztes Jahr in einem Vortrag daran erinnert, dass „unser Alltag für unsere Kinder ihre Kindheit" ist. Und sie werden vermutlich noch ihren Enkelkindern erzählen, dass es damals eine Pandemie gab und plötzlich die Schulen geschlossen waren. Wirken wir an guten Erinnerungen mit.